,Hier teile ich mit euch einen ersten Teil meiner Reportagereise nach Israel. Einen Tag bin ich von Tel Aviv, der Stadt, in der ich gelebt habe, nach Jerusalem gefahren. Ein Sehnsuchtsort für mich seit dem ich denken kann. Einen Ausschnitt meiner Erlebnisse lest ihr hier.
Pulsierende Gassen
Enge Gassen aus uraltem Stein. Dunkel. Und bunt. Voller Gesichter – mal staunend, mal suchend. Und voller Füße, die vorwärts wollen, anderen folgen, sich mitnehmen lassen.
Es pulsiert in diesen Gassen. Tief und unermüdlich kraftvoll. Mitten darin stehe ich. Vielmehr gehe ich, weil stehen kaufen heißt oder ablehnen und beides möchte ich nicht. Als ich in diese Stadt kam, nahm ich mir vor, mich einfach durch die Gassen treiben zu lassen, zu entdecken – erspüren was die Altstadt von Jerusalem bedeutet. Wer sie ist.
Das sollte kein Problem sein bin ich doch ausgestattet mir Karte, GPS und einem wirklich guten Orientierungssinn.
Und nun stehe ich hier. An einer Wand. Und weiß nicht wo ich bin. Weder Karte noch GPS vermögen zu helfen und auch ich selbst kann mich nicht mehr verorten in diesem Gewirr aus Tunneln und Läden. Es mag das muslimische Viertel der Altstadt sein aber wo fängt es an und wo hört es auf und wo bin ich dann. Um mich herum scheinen die Menschen genau zu wissen, wohin sie wollen und woher sie kommen. Ich fühle mich verloren. Immer wieder schaue ich auf die Hinweisschilder über meinem Kopf, die mir sagen in welche Richtung all die wichtigen Punkte dieser Stadt liegen. Grabeskirche, Western Wall, Via Dolorosa, … folge den Pfeilen.
Ziellos verloren
Aber ich will mich doch treiben lassen. Eben kein Ziel haben. Will, dass sich diese mythische Stadt mir zeigt. Ich möchte nicht Teil der Masse sein, die sie im Durchmarsch abarbeitet.
Immer zielloser, immer verlorener und immer unruhiger werde ich je öfter ich auf die Hinweisschilder an jeder neuen Kreuzung schaue, Straßenschilder lese und versuche den Stand der Sonne in diesen dunklen Gassen einzuschätzen um mir dann wieder zu sagen, dass ich doch gar kein…
… Nach dem hundertsten Mal Bestehen auf der eigenen Ziellosigkeit wird mir klar: das stimmt nicht. Schon seit heute morgen habe ich ein Ziel. Nicht mein Kopf und nicht mein Entdeckerinnendrang.
Gefunden
Etwas anderes in mir weiß genau, wo es hin will. Ich muss und möchte jetzt dorthin. Dort möchte und dort erst kann ich anfangen diesen Ort zu begreifen. Ich muss in seine Mitte, in sein Herz. Dorthin, wo es auch all die vielen Menschen um mich herum hinzieht. Ich muss zum Tempelberg. Zur Western Wall. Ich bin keine Jüdin, nicht einmal mehr praktizierende Christin und dennoch. Genau dort zieht es mich hin. Und ab diesem Moment wird es leicht. Als würde die Altstadt mich aufnehmen. Wie wiedergefunden finden meine Füße den Weg und der Strom der Menschen lässt mich einfach ein Teil von ihm sein. “Komm, wir gehen diesen Weg gemeinsam.”
Das Herz der alten Stadt
In einem dunklen Schacht vor den Sicherheitsschläusen, umringt von französischen Kindern, die mit lauter Begeisterung all die Süßigkeiten vom Markt vertilgen, kehrt Ruhe ein in mir.
Sicherheitsschläusen bin ich ja nun gewohnt und nebenbei löscht mein Gehirn alle Bilder, die ich mir je von dem Ort gemacht habe, den ich gleich betreten werde. Hinter dieser Dunkelheit und Enge liegt die Klagemauer.
Der Platz empfängt mich mit gleißend hellem Licht. So viel Himmel, so viel Weite und so viele Menschen. Die Adern der Stadt pumpen ihren Lebenssaft auf diesen Platz und fluten ihn mit Staunen, Ehrfurcht, Hektik, Freude, Demut und tausend Jahren Sehnsucht und Schmerz in der Geschichte so vieler Gläubiger.
Von irgendwo höre ich Menschen klatschen und singen, die Stimmung ist ausgelassen und erwartungsvoll. Heute ist Donnerstag und viel junge Jüdinnen und Juden kommen hierher um ihre Bar Mizwa und Bat Mizwa zu feiern. Ganze Gruppen sind extra dafür angereist. Handykameras und ganze Filmteams begleiten die Feierlichkeiten der Familien. Jungs werden, begleitet von anderen männlichen Verwandten, auf dem für Männer vorbehaltenem Teil an der Mauer auf ihre erste Lesung aus der Thora vorbereitet.
Ihre Mütter, Schwestern, Großmütter und Tanten stehen auf weißen Plastikstühlen hinter der Absperrung auf ihrer Seite des Platzes vor der Mauer. Köpfe ragen über den Zaun, Hände versuchen die Jungen zu berühren, den Stolz und das Glück der Mutter dem von all der Aufmerksamkeit und Bedeutsamkeit etwas überforderten Teenies mitzugeben.
Mir geht so viel durch den Kopf während ich diese Szenen beobachte. Ehrfurcht vor diesem so wichtigen Moment, Überwältigung und immer wieder auch diese Befremdung. Teilung herrscht hier. Teilung, Abgrenzung, Restriktion auf so vielen Ebenen. Und eine, die mich hier und jetzt am tiefsten bewegt ist die Trennung der Gläubigen in zwei Geschlechter, die nicht einmal aufgehoben wird, wenn es das wichtigste im Leben eines Juden zu feiern gilt. Als hätte Religion, Beziehung zu Gott, Sehnsucht und Verehrung ein Geschlecht, das dem einen Menschen mehr erlaubt, als dem anderen.
Ich bin überfordert von diesen Gefühlen und Gedanken – versuche zu verstehen mit all dem Respekt vor anderer Menschen Lebensentscheidungen und ihrem Glauben, habe ich ja auch meinen eigenen.
Hat Religion ein Geschlecht
Gleichzeitig wird mir auch klar: Ich werde die Bilder, die in meinem Kopf waren von Szenen an der Klagemauer, gar nicht mit meiner Kamera einfangen können. Denn es sind alles Bilder von betenden Juden ihr Gesicht in die Thora vergraben oder an die Mauer gelehnt. Männer (!) viele mit Hüten und Locken. Aber dort darf ich gar nicht hin. Ich bin eine Frau. All die Bilder sind also von Männern gemacht. Ich weiß weder, wie der Bereich der Frauen aussieht, sich anfühlt, noch weiß ich etwas über die Bat Mizwa – das Fest der Mädchen.
Warum weiß ich darüber nichts? Warum ist das Judentum, wie es mir bisher begegnet ist, so männlich? Natürlich kenne ich die Antworten auf diese Fragen.
Aber ich suche lieber Antworten auf Fragen, die ich mir auch viel zu lange nicht gestellt habe und gehe auf die Seite, die ich betreten darf. Zwischen vielen weißen Stühlen hindurch bewege ich mich in diesen Raum, der viel stiller ist als er bei all den Menschen vermuten lässt. Frauen sitzen oder stehen mit dem Gesicht der Mauer zugewandt. Einige stehen dicht vor ihr, warten darauf sie berühren zu können, dem Heiligsten endlich nahe zu sein, viele beten und lesen leise murmelnd aus – ja, aus was? der Thora? – ich weiß es nicht, einige weinen, andere lächeln über die Kinder, die zwischen den Stühlen Fange spielen.
Immer wieder hört man das Verrücken der Stühle von denen, die sich rückwärts von der Mauer weg bewegen, weil man dem Heiligsten nicht den Rücken zudreht. Ich fühle mich wohl, obwohl ich fremd bin. Ich darf hier sein und ich darf Fragen haben, ich darf staunen und ich darf einfach da sein. Und ich möchte diese Mauer berühren. Auch ganz vorn, wartend auf eine Möglichkeit ohne andere zu bedrängen, bin ich aufgenommen und Teil einer Erfüllung.
Diese Erfüllung, die immer wieder aussieht wie tiefes Glück sehe ich in vielen Augenpaaren. Lächelnde Frauen, die bei sich sind und einander verbunden in diesem Moment, an diesem Ort.
Irgendwann fühle ich mich bereit für Jerusalem. Bereit für diese Stadt und ein Stück vollständiger als ich es vorher war, ohne dass ich um diese Sehnsucht in mir wusste. Ich muss nicht wissen, was es war, nicht, was es heißt. Ich packe alle die Eindrücke und meine Kamera ein. Nehme die Fragen, die Widersprüche und all die Bewegung mit und weiß schon jetzt, dass mich dieser Ort noch lange beschäftigen wird.
Jetzt muss ich aber erstmal etwas essen. Und nochmal beginnen in diese Stadt zu kommen.
Antworten
Einen Tag später, am Freitag, lese ich durch Zufall, von dem was an genau diesem Ort geschah, keine 24 Stunden später, den ich gerade verlassen hatte.
Tausende Ultraorthodoxe Juden haben, ohne von der Polizei oder dem allgegenwärtigen Militär nennenswert daran gehindert worden zu sein, eine Gruppe von Frauen, die sich Woman of the Wall (WOW) nennen, angegriffen, beschimpft, bedroht und bespuckt, weil diese das 30jährige Bestehen ihrer Bewegung feiern, indem sie, wie einmal im Monat (nur nicht an Feiertagen und Shabbat) an der Western Wall genau das tun, was eigentlich den Männern vorbehalten ist. Laut beten, gemeinsam laut singen, laut aus der Thora lesen, einen Gebetsschal und Tefillin tragen. All das also, was für einen Menschen jüdischen Glaubens der wertvollste und wichtigste Dienst an Gott ist. Diese Frauen stehen seit 30 Jahren für ihr Recht ein ihren Glauben genauso zu leben wie Männer; dafür, dass Religion und religiöse Praxis einen historischen Kontext hat und dem Menschen dient, nicht anders herum.
Mehr dazu hier
Vielleicht bin ich froh, schon am Donnerstag nach Jerusalem gefahren zu sein. Vielleicht, sehr wahrscheinlich sogar aber hätte etwas in mir auch viel lieber diesen Frauen zur Seite gestanden, sich mit ihnen verbunden.
Jerusalem, du mythische Stadt. Du wirkst auf mich, wie das gebrochene Herz einer Mutter, das nicht aufhören will zu schlagen mit all der Liebe, die sie für ihre Kinder hat und doch mit ansehen muss, wie es sie zerreißt obwohl sie alle diese eine Sehnsucht teilen: im Schoß ihrer Mutter Frieden zu finden.